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„Papier als Werkzeug: Eine soziomaterielle Geschichte des Wissens“ und die Relevanz der weiblichen Heimarbeiterinnen im Rahmen der preußischen Volkserzählung

von Maren Wachowski

Dr. Christine von Oertzen präsentierte im Rahmen der Ringvorlesung spannende Einblicke in ihre wissenschaftliche Forschung zu dem Thema „Working with Paper: Gendered Practices in the History of Knowledge“. Das Hauptaugenmerk des Vortrages lag hierbei auf der Soziomaterialität des Papiers, also auf der sozialen Relevanz, die der Werkstoff durch seine Verwendung erlangen kann, sowie auf verschiedensten Kulturpraktiken rund um das Medium Papier und seiner tragenden Rolle zur Konstituierung einer sozialen und gesellschaftlichen Ordnung.

 

Um deutlich zu machen, dass sich das Konzept der Soziomaterialität eines Gegenstands oftmals erst in der konkreten Betrachtung dieses herausstellen lässt, gewährte uns Dr. von Oertzen einen Einblick in ihre Forschung zu der 1871 in Preußen durchgeführten Volkszählung, bei der erstmals die Preußische Zählkarte zum Einsatz kam. Im Fokus stand hierbei neben der simultanen Betrachtung der Zählkarte als Schreiboberfläche und als Werkzeug außerdem die Datenauswertung, welche den Ehefrauen und weiblichen Verwandten der männlichen Beamten in Heimarbeit anvertraut wurde und eine zentrale Frage aufkommen ließ: Inwieweit wurde das logistisch hochkomplexe System der Datenzirkulation sowie das der Datenauswertung überhaupt erst durch die der Heimarbeit zugrundeliegenden Ordnung im preußischen Privathaushalt und die Arbeitsmoral der Heimarbeiterinnen ermöglicht?

 

Der Vorgang der Datenerhebungen macht deutlich, inwieweit eine ‚geordnete Häuslichkeit’ in den zur Heimarbeit genutzten Haushalten unentbehrlich war. Bestand die Hauptaufgabe der Hausfrau bisher darin, den Haushalt zu regeln und die privaten Finanzen zu überblicken, so waren zu den Hochzeiten der Volkszählung 1890 in Berlin bis zu 3.000 Frauen in Heimarbeit beschäftigt und hantierten innerhalb weniger Monate mit über 27.000 Kisten Auszählungsmaterial. Die Heimarbeiterin zu preußischen Zeiten galt somit als wichtige Säule der Volkswirtschaft, der Staat verlangte von ihr im Rahmen der Datenauswertungs-Arbeit ein hohes Maß an Gehorsamkeit, Kontrolle, Sorgfalt, Rechenfähigkeit, Ausdauer und Aufmerksamkeit.

 

Der revolutionäre Erfolg der bürokratisch ausgefeilten preußischen Volkszählung konnte also nur zum Teil der technologischen Neuerung des Verwaltungsapparates durch die Institution der Zählkarte zugeschrieben werden. Vielmehr verdeutlicht dieses Vorgehen, inwieweit vorherrschende gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen immer auch ausschlaggebend für den Erfolg der jeweils neuen Prozesse und Verwaltungsakte sind. Hierdurch hat Dr. Christine von Oertzen im Rahmen der Soziomaterialität der Preußischen Zählkarte einen neuen kulturhistorischen Aspekt beleuchtet, der auch den Fähigkeiten der involvierten Akteurinnen ein hohes Maß an Relevanz zuschreibt und in der Betrachtung des bürokratischen Akts der preußischen Volkszählung einen neuen Blickwinkel eröffnet.