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Verlorene Form. Fragen an ein Zwischenstadium

von Britta Lange und Kerstin Stoll

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N’KURUI

Im Bestand historischer Modelle der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin finden sich nur wenige Reproduktionen ganzer menschlicher Körper. Dazu gehört der etwa einen Meter vierzig hohe Ganzkörperabguss eines Mannes aus dem südlichen Afrika. Felix von Luschan formte ihn im Zuge seiner rasseanthropologischen Untersuchungen bei einer Reise in das britisch kolonialisierte Südafrika im Jahr 1905 in Gips ab. Die in mehreren Teilen direkt vom Körper abgenommenen Negative wurden per Post von Johannesburg nach Berlin geschickt und in der Gipsformerei ausgegossen. Das dabei entstandene Modell und die davon angefertigten dauerhaften Negativformen befinden sich bis heute in der Gipsformerei. Plastische Kopien des Mannes wurden außerdem bis in die 1930er Jahre an andere Museen – darunter Johannesburg, Kapstadt, Berlin-Dahlem, Salzburg, Wien – geliefert und zirkulierten als Exemplar eines „Rassentyps“. Auch Ausstellungen nach der Jahrtausendwende 2000 zeigten das Modell: diesmal als Beispiel historischer Visualisierungs- und Ausstellungsformen, jedoch ohne dass etwas über die Identität und Geschichte des abgeformten Menschen bekannt gewesen wäre. Erst Margit Berner (Kuratorin der Abgusssammlung in der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien) recherchierte in den Jahren 2010/11 den in deutschen Archiven überlieferten Namen des Mannes: N’Kurui.

 

LEBENDABGUSS

Die Fragen und Recherchen zu N’Kurui haben uns im Jahr 2012 zusammengeführt: Margit Berner (Anthropologin), Britta Lange (Kulturwissenschaftlerin), Thomas Schelper (Gipskunstformer in der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin), und Kerstin Stoll (bildende Künstlerin). Während der gemeinsamen Suche nach Informationen in Archiven und zum Verfahren der Abformung taten sich viele Fragen auf.

Als eine Möglichkeit der Annäherung haben wir 2013 selbst einen Ganzkörperabguss durchgeführt. Uns ging es dabei weder um ein Reenactment mit vertauschten Rollen – noch um ein Nachempfinden historischer Grenzüberschreitungen. Wir wollten herausfinden, welche komplexen technischen, handwerklichen, sozialen und künstlerischen Aspekte sich in einem solchen, über Tage dauernden Prozess verflechten.

 

VERLORENE FORM

Die Negativformen, die direkt von der Haut abgenommen werden, können nach ihrer Trocknung und Versiegelung mit Trennmittel nur für die Herstellung des ersten Positivs verwendet werden. Beim Herausschlagen des Modells müssen sie zerstört werden – deswegen nennt man sie in der Fachsprache „verlorene Formen“. Sie bilden einen notwendigen Zwischenschritt zum Positiv, ein Zwischenstadium, das nicht zur Ausstellung oder Archivierung gedacht ist.

Die „verlorenen Formen“ von N’Kurui und somit alle direkten Spuren seiner Gestalt und des Aktes der Herstellung im Jahr 1905 sind tatsächlich verloren. Wir können sie uns nur noch vorstellen: als materielle Erinnerung an den Prozess des Abgießens. Für uns ist die verlorene Form daher auch eine Metapher – ein Denkmodell, das Fragen über Fragen an die Geschichte der Verflechtung von Wissenschaft und Kolonialismus aufwirft: Wer war N’Kurui, wo kam er her? War er allein, war seine Familie bei ihm? Wie hat er mit den Weißen gesprochen? Wie haben von Luschan und dessen Frau ihn überredet, den Abguss machen zu lassen? Wurde ihm das Ziel der Wissenschaftler erklärt? Wie hat er darüber gedacht?